Des Tanzes ungerechte Liebe

Kurzgeschichte von Chryssanthi Sahar Scharf

-Was ist mit dir liebe Mona? Du schaust schon die ganze Zeit so
fasziniert dieses Foto an. Wer ist das überhaupt auf dem Foto?
-Siehst du es nicht? Eine Tänzerin!
-Ja, ich sehe schon, daß es eine Tänzerin ist, aber warum begeistert sie dich so sehr?
-Weil sie eine besonders gute Tänzerin ist. Ich habe sie vor einiger Zeit tanzen sehen. Sie ist eine begnadete Künstlerin, eine Zauberin. Sie zieht das Publikum in ihren Bann und entführt es in andere Welten. Es ist ein wahres Erlebnis, sie tanzen zu sehen. Sie ist eine Geliebte des Tanzes.
-Ist nicht jede Tänzerin eine Geliebte des Tanzes?
-O nein, leider nicht. Das hätte zwar jede gerne, aber die Auserkorenen sind eher wenige.
-Es liebt doch jede Tänzerin den Tanz.
-Ja, durchaus. Aber es hat nichts damit zu tun, ob eine Tänzerin den Tanz liebt, sondern ob der Tanz die Tänzerin liebt. Erst wenn der Tanz sich in die Tänzerin verliebt und sie nicht mehr los läßt, ist sie eine begnadete Tänzerin.
-Wie meinst du das? Wie soll der Tanz die Tänzerin lieben?
-Schau Cornelia. Ich erzähle dir eine Geschichte. Ich kannte einmal eine Frau, sie war Tänzerin; das heißt, sie begegnete irgendwann dem Tanz, einem exotischen Tanz in diesem Fall, und sie verliebte sich unsterblich in ihn. Zu jenem Zeitpunkt war diese Frau noch keine Tänzerin.
Ihre Leidenschaft für den Tanz wuchs so sehr, daß sie ihren Beruf, ihre Freunde, ja sogar ihre Familie verließ, um ihm zu folgen und bei ihm zu sein. Ihr ganzer Lebenssinn bestand nur noch in dem Wunsch eine gute Tänzerin zu werden und den Tanz, ihren geliebten exotischen Tanz , überall in ihrer Heimat bekannt zu machen.
Sie lebte und arbeitete nur noch für den Tanz. Sie schaffte es, diesen Tanz in die breite Öffentlichkeit zu bringen, ihn auf großen Bühnen und im Fernsehen aufzuführen. Sie schrieb Bücher über ihn und gründete sogar eine Schule, um ihn zu verbreiten. Sie scheute keine Mühe und keine Kosten, die besten Lehrer aus der ganzen Welt in ihre Schule zu bringen, damit sie und ihre Schülerinnen den Tanz so gut wie möglich lernen konnten.
Sie lernte alles, was es in Bezug auf diesen Tanz gab, sie lebte nur noch für ihn, aber... leider wurde sie nie eine begnadete Tänzerin.
-Wie ist so etwas möglich Mona? Wieso konnte eine Frau, die so viel über einen Tanz gelernt hatte, nie eine gute Tänzerin werden?
-Ja, sie hatte viel gelernt und sie hatte den Tanz leidenschaftlich geliebt, aber er erwiderte ihre Liebe nie. Unverschämt wie ein freches Kind nahm er alles an, was sie für ihn tat, aber er gab ihr nie seine Liebe und seine Gnade.
Wenn die Frau tanzte, war keine Magie da. Das Publikum wurde nicht in anderen Welten entführt. Es sah nur eine alternde Frau, die komplizierte Tanzbewegungen auf der Bühne vorführte, aber diese Bewegungen berührten es nicht. Der tanzende Körper und die Musik liefen nebeneinander, ohne einander zu durchdringen und meistens langweilten sich die Zuschauer nach einer gewissen Zeit.
Es gab nur wenige, die die Leidenschaft dieser Frau für den Tanz erkannten und sie deswegen besonders respektierten und würdigten. Die arme Frau merkte selbst, daß ihre Liebe einseitig war, aber sie konnte trotzdem von dem Tanz nicht ablassen. Ihr Herz aber zerbrach daran, sie wurde krank und sie starb. Die meisten dachten, sie sei an einer bösen Krankheit gestorben. Diese aber, die wußten, erkannten, daß die Frau an ihrer unerfüllten Liebe starb. Deswegen trauerten sie um sie und machten sie zu einer Heldin und Heiligen. Doch auch diese Menschen sagten nie von ihr, sie sei eine begnadete Tänzerin gewesen.
-Das ist eine sehr tragische Geschichte, Mona. Wie sehr muß diese arme Frau gelitten haben. Aber, wenn der Tanz diese Frau, die ihm so bedigungslos ergeben war, nicht liebte, wen liebt er denn überhaupt?
-Der Tanz ist ein launisches Kind, wild und unberechenbar. Meistens wählt er diese, die er liebt, schon im Kindesalter aus. Da sieht er ein schönes Kind und verliebt sich und er läßt das Kind nicht mehr los. Auch wenn das Kind ihm gar nicht ergeben ist, oder wenn es sich ihm sogar widersetzt, läßt er es nicht in Ruhe. Er bleibt bei ihm, bis es erwachsen ist, er macht es süchtig nach ihm. Und wenn das Kind ihm untreu wird, oder wenn es anfängt, ihn nicht ernst zu nehmen, klammert sich der Tanz erst recht an das Kind.
Ich hatte mal einen Tänzer kennengelernt. Er kam aus einem exotischen Land und tanzte einen exotischen Tanz. Ich sah ihn das erste Mal bei einer Vorfürung auf der Bühne und mir blieb fast der Atem weg! Er tanzte eine Geschichte über Götter und er wurde selbst zu einem Gott. Ich sah einen Gott auf der Bühne! Die Welt um mich herum verschwand und da war nur dieser junge, wunderschöne Gott auf der Bühne, der mich mit Glückseligkeit erfüllte. Es war überwältigend! Ich hatte dann das Glück ihn persönlich kennen zu lernen und als ich ihn fragte, wie er zum tanzen kam, erzählte er mir ein interessante Geschichte. Eigentlich wollte er gar nicht tanzen, sondern Fußball spielen, erzählte er mir. Er hatte als Kind sehr viel Fußball gespielt und er träumte davon, eines Tages Fußballstar zu werden. Tanzen sei etwas für Mädchen, dachte er. Doch dann mußte er seine Schwester zu einem Tanzkurs begleiten. Er mußte auch warten, bis sie fertig mit der Tanzstunde war, um sie dann wieder nach Hause zu begleiten. Das passierte jede Woche einige Zeit lang und da er anfing, sich beim warten zu langweilen, fing er auch an, im Tanzkurs mitzumachen. Es stellte sich bald heraus, daß er ein außerordentliches Talent war und der Tanzlehrer sprach mit seinen Eltern und überzeugte sie, daß der Junge unbedingt ein Tänzer werden muß. In der Heimat dieses Tänzers war der Tanz etwas ehrenvolles und heiliges, deswegen freuten sich seine Eltern und zwangen ihn dazu Tanzstunden zu nehmen. Am Anfang sträubte er sich dagegen, dann aber schaffte es der Tanz endlich von seinem Herzen Besitz zu ergreifen. Er wurde zu einem wahren Geliebten des Tanzes. Er wurde der berühmteste und beste Tänzer seines Landes und auch in vielen anderen Ländern bekannt. Die Magie, die von seinem Tanz ausging, war einmalig. Und das merkwürdigste war: außerhalb der Bühne war er ein ganz normaler Mensch, nicht besonders schön, ja, fast unauffällig.
So ist es mit den Menschen, in die sich der Tanz verliebt. Ob sie sich dem Tanz ergeben oder fremd gehen, spielt keine Rolle. Sie sind es, durch die der Tanz zu den Herzen spricht. Diese Tänzer und Tänzerinnen zeigen ihr wahres Selbst, wenn sie tanzen und deswegen können sie die Menschen ganz tief berühren. Solche Tänzer zu sehen ist eine Offenbarung. Das kann ein ganzes Leben verändern.
-Aber Mona, du sagtest , daß es solche Tänzer gibt, die fremd gehen. Was meinst du damit?
-Es gibt Geliebte des Tanzes, die nicht akzeptieren wollen, daß sie dem Tanz gehören. Obwohl sie eigentlich ohne den Tanz nicht leben können, rebellieren sie irgendwann gegen ihn und versuchen ihm zu entfliehen. Sie stürzen sich in andere Beschäftigungen und ergreifen Berufe, die nichts mit dem Tanz zu tun haben. Aber die Leidenschaft lodert weiter in ihren Herzen und eines Tages bricht sie durch. Dann werfen sie alles hin und gehen wieder ihren Weg, nämlich den Weg des Tänzers. Das ist ihre Bestimmung und wenn sie sie nicht erfüllen sind sie sehr unglücklich.
Ich erzähle dir noch eine Geschichte. Sie handelt um eine untreue Geliebte des Tanzes.
Diese Frau wuchs in einem Land auf, in dem der Tanz als gesellschaftliches Ereigniss und Privatvergnügen zwar sehr geschätzt war und hohe Stellung hatte, als Beruf aber sehr schlecht angesehen wurde. Die Heimat dieser Frau hatte eine enorme Tanztradition und gut zu tanzen war dort eine Frage der Ehre, aber sobald jemand, gleich ob Mann oder Frau, sich für eine berufliche Laufbahn als Tänzer entschied, wurde man von den meisten verachtet. Die Frau hatte sich schon als kleines Kind in den Tanz verliebt. Es war eine gegenseitige Liebe. Der Tanz folgte ihr überall und egal wo sie tanzte, sie stach immer heraus. Man bat sie öfter vorzutanzen, weil ihr Tanz die Menschen immer berührte. Diese Frau träumte davon, den Tanz zum Beruf zu machen, aber sie wußte, daß es nicht möglich war. Sie wäre ins gesellschaftliche Abseits geraten und das wollte sie nicht. Da sie vielfälltige Interessen hatte, gab sie sich dem Studium anderer Dinge hin und irgendwann ging sie ins Ausland.
Das Schicksal wollte, daß sie im Ausland heiratete und dort blieb. In dem neuen Land, wo sie jetzt lebte, packte sie der Tanz richtig.
Sie tanzte mehr und mehr und irgendwann machte sie doch den Tanz zum Beruf. In diesem anderen Land wurde der Tanz als Beruf gut akzeptiert und so überwand die Frau unserer Geschichte ihre Zweifel und gab sich ganz dem Tanz hin. Sie wurde ein erfolgreiche Tänzerin, aber innerlich hatte sie noch Zweifel, ob das, was sie tut, das Richtige ist. Sie konnte sich von den Vorstellungen, mit welchen sie aufgewachsen war, nicht ganz befreien und nach einigen Jahren sehr erfolgreicher tänzerischer Laufbahn, verriet sie den Tanz und ging fremd.
-Das ist sehr stark ausgedrückt Mona. Was tat denn diese Frau, daß du ihr Verrat vorwirfst?
-Sie hörte auf zu tanzen. Nein, das ist nicht wahr, sie hörte nicht ganz auf zu tanzen, weil auch wenn sie den Tanz ablehnte, sie ihm immer noch hörig war, aber sie hörte auf, beruflich zu tanzen. Sie beschäftigte sich wieder mit ganz anderen Dingen und versuchte diverse andere Berufe auszuüben. Das ging einige Jahre lang. Aber nichts von all dem, was sie tat, hatte Erfolg. In der gleichen Zeit lief ihr der Tanz regelrecht hinterher. Aber sie versuchte ihn zu ignorieren. Sie lief Sachen hinterher, die ihr wegliefen, und sie lief vom Tanz weg, der ihr hinterherlief. Eine absurde Situation.
-Das kann man wohl sagen. Klingt wirklich komisch.
-Zum Glück erkannte die Frau in einem Moment der Verzweiflung die Absurdität ihres Verhaltens. Und in diesem Moment schaffte sie es, sich von allen fremden Gedanken zu befreien und auf das eigene Herz zu hören.
-Was passierte dann, Mona?
-Dann erkannte sie, daß sie eine Geliebte des Tanzes war. Sie erkannte, daß der Tanz ihre Berufung war und, daß es keinen Sinn hatte, ihm entfliehen zu wollen. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt. So beschloß sie, sich wieder dem Tanz ganz hinzugeben, ihm zu dienen und durch ihm den Menschen zu dienen und so fand sie schließlich Frieden für ihr Herz.
-Wurde sie wieder Berufstänzerin?
-Ja. Und sie beschloß nie wieder fremd zu gehen, jedenfalls nie so lange ihr Körper mitmachte. Und sie wurde innerhalb vor kurzer Zeit wieder sehr erfolgreich.
-Es ist aber schön für die Frau, daß sie ihre Bestimmung erkannte.
Oh Mona, du hast mir heute wirklich ergreifende Geschichten erzählt.
-Ja, Cornelia. Ich habe viele Geschichten erzählt, aber ich möchte dir noch eine letzte Geschichte erzählen. Sie handelt vom höchsten Glück eines Geliebten des Tanzes.
-Und was ist es?
-Du wirst es durch die Geschichte erfahren. Ich kannte einen alten Mann. Er war auch ein Geliebter des Tanzes. Er war zwar nie ein Berufstänzer, aber er hatte sich schon als kleines Kind in den Tanz verliebt. Er verlor seine beiden Eltern als er gerade fünf Jahre alt war und der Tanz wurde seine Zuflucht, sein Vater und seine Mutter zugleich. Er tanzte und vergass seinen Schmerz. Und als er später auch seine Heimat verlor (er wurde von seiner Heimat vertrieben), wurde der Tanz auch zu seiner Heimat. Er tanzte in seiner neuen Heimat und er fand im Tanz Trost und Hoffnung. Und als irgendwann auch seine neue Heimat durch Krieg zerrüttet wurde, tanzte er und vergaß seine Wunden.
Dieser Mann tantze immer wenn er traurig und verzweifelt war, aber auch wenn er fröhlich und glücklich war. Er tanzte, wenn er vergessen wollte, aber auch wenn er sich erinnern wollte, z.B. an seine Eltern oder an seine Heimat. Er liebte den Tanz und der Tanz liebte ihn und der Tanz hielt ihn gesund und stark trotz aller Schicksalsschläge, die er erlebt hatte. Der Mann wurde alt, sehr alt und als er fast 90 Jahre alt war, versagte plötzlich sein Körper. Er wurde krank und konnte sich nicht mehr gut bewegen. Er wurde sehr traurig und resignierte. Die letzte Zuflucht, die ihm blieb, war das Singen, das liebte er auch sehr. Er saß den ganzen Tag in seiner Wohnung oder auf seinem Balkon und sang fast ununterbrochen Lieder seiner alten Heimat leise vor sich hin. Aber auch wenn er das Singen liebte, es konnte ihm nicht das Tanzen ersetzen.
-Der arme Mann. Er muß sehr deprimiert gewesen sein.
-Ja, das war er. Dann kam Weihnachten und er hörte von seiner Tochter, daß es eine große Feier im Seniorenheim seiner Stadt geben würde. In dieser Feier würde man auch Musik von seiner alten Heimat spielen und die Tänze seiner Heimat tanzen. Wie durch ein Wunder,konnte der alte Mann plötzlich gut stehen und gehen und bat seine Tochter ihn zu dieser Feier zu bringen. Die Tochter machte sich zwar Sorgen, aber sie erkannte, daß es ein ganz inniger Wunsch von ihm war, dorthin zu gehen und sie brachte ihn zu der Feier.
-Das klingt sehr spannend Mona. Was passierte dann?
-Es passierte wirklich ein Wunder. Der alte Mann tanzte und tanzte. Er tanzte die Tänze seiner alten Heimat und die Tänze seiner neuen Heimat, er zog die Reige und er tanzte solo und alle wunderten sich. Alle fragten sich, woher dieser alte, kranke Mann die Kraft nimmt, so viel zu tanzen. Aber weißt du Cornelia, das war das letzte Aufflackern des Feuers, bevor es erlischt. Irgendwann gegen Mitternacht brach der alte Mann auf der Tanzfläche zusammen. Man holte sofort einen Krankenwagen und der Mann wurde ins Krankenhaus transportiert. Aber unterwegs hauchte er seine Seele aus. Der Krankenpfleger,der ihn versorgt hatte, sagte, der alte Mann sei mit einem Lächeln auf der Lippe gestorben. Verstehst du jetzt Cornelia? Der Mann hat den glücklichsten Tod erfahren, den ein Geliebter des Tanzes je erfahren kann. Er hat das Leben tanzend verlassen. Das ist des Tänzers höchstes Glück.
-Oh Mona, ich habe Gänsehaut bekommen. Der alte Mann war offenbar unglücklich in seinem Leben, aber er hatte einen glücklichen Tod. Du hast mich sehr nachdenklich gemacht, Mona.
Ich werde ab jetzt, immer wenn ich eine Tänzerin oder einen Tänzer sehe, mich fragen, ob sie Geliebte des Tanzes sind.
-Das brauchst du nicht Cornelia. Denn, wenn du einen Geliebten des Tanzes siehst, wirdst du es sofort wissen. Und du wirdst nach dieser Begegnung nicht mehr dieselbe sein.
-Aber irgendwie ist der Tanz ungerecht, wenn er seine Liebe so willkürlich verteilt. Wenn er Menschen verfolgt, die ihm entfliehen wollen und Menschen verschmäht, die ihm alles opfern.
-Ist das Leben Gerecht, Cornelia? Und schließlich, wer will darüber urteilen, was Gerecht oder Ungerecht ist?